Da ist was in meinem Leben
Ein höchst empfindlicher Aspekt
Hab ihn verheimlicht, er war mir peinlich
Darum hab ich ihn versteckt

19. April 2019 – Wie fang ich an darüber zu schreiben?

In meinem Kopf schwirren die Personen herum, gegenüber denen es mir unheimlich unangenehm ist, das zuzugeben. Denen ich nicht die Wahrheit gesagt habe. Die mich dadurch vielleicht anders sehen. Aber sind es nicht genau die, die nicht wirklich wichtig sind? Sondern die, die in mir das sehen was an mir ganz wertvoll ist?

Seit so vielen Jahren mache ich ein Geheimnis draus und dabei denke ich, dass es eh viele ahnen oder wissen. Denn mein Essverhalten war ja eben nie „normal“.

Das Schlimmste ist, dass es mir so peinlich ist. Und während ich das schreibe, kommen schon wieder Tränen hoch. Ich versuche bewusst zu leben. Und da gibt es ein Thema, was ich einfach nicht im Griff habe. Und dieser Makel zeigt mir, dass ich noch nicht angekommen bin in meiner Selbstakzeptanz. An dem Punkt wo ich mich liebe wie ich bin. Sondern dass immer noch dieser scheiß Perfektionismus Macht über mich hat.

Schminke kann ich weglassen, mich zeigen wie ich bin, aber zuzugeben dass ich eine Essstörung habe, das bringt mich in eine neue Herausforderung. Und dennoch ist es an der Zeit dort weiter zu arbeiten.

Irgendwann wird es Zeit

Seit der Konfrontation vor einigen Tagen, als mein Bruder mich zur Seite nahm und mich darauf angesprochen hat, dass er sich Sorgen macht, weil er schon lange beobachtet was ich da mache, arbeitet es in mir. Es kommen Gedanken, aber noch keine Lösung. Aber es ist okay. Ich habe den Mut drüber zu reden. Noch nicht mit der Öffentlichkeit. Als allererstes mit meinem Schatz, der es schon immer wusste, mich genau so kennen gelernt hat und der mir immer gezeigt hat, dass er mich so respektiert und nichts an mir verändern will, weil es in seinen Augen nicht okay wäre. Er und ich wissen genau, es kann nur aus mir heraus kommen. Der Wunsch nach Veränderung, nach Auflösung, Klärung.

Aber es brauchte seine Zeit

So lange nehm ich es hin. Ich habe es vor etwa 3 Jahren das erste Mal mit 2 Freunden besprochen und den ersten Schritt gemacht, zu akzeptieren, dass es ein Teil von mir ist. Dieses Verhalten. Zu viel zu essen und es dann wieder zu korrigieren indem ich mich entleere. Andere nennen es kotzen. Das klingt aber immer so .. ich weiß auch nicht. Ich benutze das Wort nicht gern, es wird zu oft in anderem Sinne benutzt. So bei… das kotzt mich an.. ich find das zum Kotzen.. Aber bei mir ist das ein anderer Zusammenhang. Obwohl ich schon manchmal Assoziationen habe wie: Ja da gab es Menschen in meinem Leben, die fand ich eben einfach zum … Egal. Und auf diesen Schritt der Konfrontation folgt nun ein weiterer, der heißt, ich möchte frei davon werden. Ich möchte es nicht mehr „brauchen“

Ja aber warum brauche ich es eigentlich?

Meine Gedanken kreisen auf Hochtouren. Gehen zurück zu den Anfängen, in denen ich ein wenig selbstbestimmtes Mädchen war, dass allen anderen Meinungen und Gefühlen mehr Raum gab als den eigenen. Und dann war da dieser ständige Hunger. Und den hab ich gestillt, in dem ich gegessen habe. Aber mehr als mein Körper brauchte. Und um nicht dick zu werden, hab ich mich danach übergeben und so dieses Problem schon mal gelöst.

Über 20 Jahre war das eine Strategie. Zu genießen was ich genießen wollte, aber die Konsequenzen nicht zu tragen. Und es geht hauptsächlich um Genuss, denn auf der anderen Seite habe ich immer versucht dafür zu sorgen, dass ich meinen Körper dennoch gut ernähre. Sprich, ich habe Nahrungsmittel in gut und schlecht, in für den Körper wichtig und unwichtig eingeteilt und das Blöde ist, dass die schlechten einfach immer wieder die waren, die ich so gern genossen habe. Denn eins muss ich zu meiner Verteidigung sagen. Ich hab nie etwas in mich reingestopft, ich hab es immer genossen und auch nie jemandem was weggegessen. Jetzt muss ich drüber lachen, weil es keinen Unterschied für meinen eigenen Körper gemacht hat, aber ich hab mich vor mir selbst immer damit gerechtfertigt, dass ich nicht zu den „normalen“ Bulimikerinnen gehöre. Wie absurd!

Begleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungBegleitbild Kompensationsstrategie - Essstörung

 

Es gab die eine Seite in mir, die bewusst gute und gesunde Nahrungsmittel aufgenommen hat, denn mein Körper sollte ja auch funktionieren und gesund bleiben. Hab mit Obst und Gemüse in Form von Smoothies und Salat immer für einen ausreichende Versorgung gesorgt, so dass ich nie richtig krank wurde aber dennoch auch nicht wirklich gesund war. Auf der anderen Seite habe ich dem Drang nach Genuss nachgegeben, damit irgendein Mangel in meiner Seele ausgeglichen wird.

Mein Körper geht nur mich was an

Es gab Zeiten da bekam ich Angstgefühle wenn es jemand herausfinden könnte. Wenn sich mal jemand traute, mich darauf anzusprechen hab ich es abgestritten, oder einfach geschwiegen. Ein Grund warum ich wahrscheinlich damit begonnen habe, war der Gleiche, warum ich nicht darüber reden wollte. Es geht nur mich etwas an. Und es ist meine ganz eigene Entscheidung, wie ich damit umgehe und überhaupt, dass ich es genau so handhabe. Also Kontrolle. Über mein Leben.

Nach diesem ersten Schritt, mir selbst einzugestehen, dass es Zeit ist etwas zu verändern habe ich angefangen, es Freunden zu erzählen. Unter Tränen. Es war mir immer noch so peinlich. Und dann… hab ich daran gearbeitet. Daran was passiert wenn ich das Bedürfnis habe…, wann ich esse…, was ich esse, warum ich so viel esse…

Ich hab mir einiges in Stichpunkten aufgeschrieben, z.B.

Was war gut an meiner Strategie?

Grenzenlos genießen

Was war nicht gut
  • Der Toilettengang danach
  • Blicke und Sprüche der Menschen
  • Schädlich für die Zähne
  • Stress für den Körper
  • Zeitaufwand große Portionen zuzubereiten
  • Kosten für viel Essen
  • Das Verheimlichen
  • Der Moment in dem ich spüre, es war zu viel
  • Mich beim Essen immer beobachtet zu fühlen
Begleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungBegleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungBegleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungFür die Zukunft ohne Essstörung – Worauf freu ich mich
  • Mich neu kennen lernen
  • Auf mein Gefühl achten und ihm folgen
  • Intuitives essen neu lernen
  • Offen damit umzugehen
  • Gutes Essen auszuwählen
  • Zubereitung kleiner werthaltiger Portionen
  • Nicht mehr abhängig zu sein von Essensgenüssen
  • Frei sein
Wovor hab ich Angst
  • Vor dem Moment indem ich Verlangen nach mehr habe
  • Dass mir Genießen von Leckereien fehlt
  • Offenheit gegenüber anderen, verurteilt werden
  • Dick und unansehnlich zu werden
Was ist klar?
  • Genuss gibt es nicht nur im Essen
  • Es gibt kein Hungern
  • Wenn ich auf meinen Körper höre, gibt es keinen Mangel und keine Überfüllung
  • Die Nahrungsmittel die gut für mich sind nähren mich, aber machen mich nicht dick
Begleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungBegleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungBegleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungAufgaben und Herausforderungen:
  • Einen Plan, der für mich umsetzbar ist
  • Locker bleiben wenn nicht alles sofort klappt
  • Bei Verlangen fragen: Brauche ich das?
  • Wenn ja, wofür brauche ich das?
  • Meditieren und in mich gehen bevor ich zum Essen greife
  • Beim Essen spüren, was währenddessen passiert
  • Aufhören bevor zu viel im Magen ist – also spüren wann Sättigung einsetzt
  • Nur das essen, wovon ich glaube, dass es gut für mich ist
  • Jeden Tag neu hineinfühlen
  • Ehrlich mit mir sein
  • Nicht den einfachen bequemen Weg wählen weil es anstrengend ist sich mit sich auseinander zu setzen
  • Buch „Der Ernährungskompass“ lesen
  • Herausfinden was für mich richtig ist
  • Essen ist nicht wichtig für meine Seele, sondern für meinen Körper

 

Begleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungBegleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungBegleitbild Kompensationsstrategie - Essstörung16.April 2020 – Ein Jahr später

Es gibt noch so viele Gedanken und Gefühle, die ich dazu aufschreiben wollte. Aber irgendwie war es wichtiger, den Prozess jeden Tag zu beobachten und da durch zu gehen, mein neues Essverhalten in mein Leben zu integrieren, statt es zu dokumentieren. Und ich kann voller Freude sagen, dass ich es geschafft habe, innerhalb dieses Jahres ein normales Essverhalten zu entwickeln, was ich nie für möglich gehalten habe. Ich hatte immer Angst davor, wieder in das Verlangen zu rutschen, mich mit Essen erfüllen zu wollen. Obwohl ich weiß, dass ich das „eigentlich“ nicht mehr brauche, weil mein Leben auf andere Weise unglaublich erfüllt ist. Es gab ein paar Rückfälle, die ich ganz bewusst und beobachtend erlebt habe und die mir geholfen haben, wirklich zu merken, dass ich es nicht mehr brauche.

Es ist kurios, ich hatte nicht geplant, den Artikel ein Jahr später zu veröffentliche, ich wollte einfach abwarten bis ich dazu bereit bin. Letztens hatte ich ein Interview mit Angela Elis, einer Moderatorin, die auf Ihrem YouTube Kanal interessante Gespräche mit Persönlichkeiten führt und da habe ich das erste Mal so ganz öffentlich, wissend, dass es jeder hören kann, darüber gesprochen. Und jetzt sitz ich hier und beende diesen Artikel und schreib mir noch den letzten Rest von der Seele. Es ist gar nicht mehr so viel was mich bedrückt, nur hin und wieder Traurigkeit darüber was ich meinem Körper zugemutet habe und dass einige Spuren sicherlich davon bleiben werden. Aber ich übe mich darin, mich selbst nicht zu verurteilen, sondern es anzunehmen dass es so war.

Und jetzt?

Heute esse ich intuitiv, wenn ich Hunger habe und nur so viel bis ich körperlich satt bin und ich genieße dennoch genauso wie vorher. Ich esse nur das, was ich glaube was gut für mich ist, lebe hauptsächlich vegetarisch und der Verzicht auf all die anderen Dinge, die ich immer gern gegessen habe ist kein wirklicher Verzicht, weil sie mir zum größten Teil gar nicht mehr schmecken.

Hin und wieder koste ich einen Streusel von Mamis Hefekuchen und genieße die Erinnerung an diese Gaumenfreude in der Vergangenheit, aber auch das Gefühl, nicht mehr davon essen zu müssen um Genuss erfahren zu haben. Oder ich probiere eine Spaghetti von meinem Schatz, um festzustellen dass es mir nicht fehlt Pasta auf meinem Speisplan zu haben.

Nachtrag August 2023

Seit Juli 2020 ernähre ich mich vegan und bin sehr glücklich damit. Ich koste also nicht mehr von Mamis Kuchen, erinnere mich aber gern daran, wie toll er immer geschmeckt hat. In der Zwischenzeit hab ich auch 2 Mal Pasta gegessen, einmal weil uns Freunde eingeladen hatten und “extra” vegane Pasta für uns zubereitet hatten. Ich hatte ein wenig Unbehagen am Anfang, habe es aber sehr genossen und es hatte keinen negativen Auswirkungen… lach. Ich denke ich bin was das angeht drüber weg.

Zurück zum April 2020

Ich habe mich entschieden, nur noch dann zu essen, wenn ich Hunger habe und das ist irgendwie ganz einfach. Es macht mir nichts aus, nichts zu essen während andere genießen. Ich nasche nicht mehr rum, sondern freue mich auf meinen Hunger und nach bzw. während des Essens auf mein Sattsein.

Ich fühl mich befreit

Ich bin so glücklich. Darüber, dass es nun kein Geheimnis mehr gibt, für das ich mich schäme, das macht mein Leben so viel leichter. Dass in meinem Kopf und in meinem Körper Essen nun eine untergeordnete Rolle spielt und ich keine Zeit und Energie mehr damit verbringe, darüber nachzudenken oder dafür zu sorgen, dass ich genug bekomme oder womit ich mich erfüllen möchte.

Ich bin glücklich, dass ich es neu lernen durfte und es wirklich funktioniert Hunger und Sattsein als deutliches Signal wahrzunehmen, und dass All-You-Can-Eat Buffets keinerlei Reiz mehr für mich haben.

Begleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungBegleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungBegleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungWie ich das geschafft habe?

Ich glaube, ich habe „einfach“ eine wirklich wichtige und ernsthafte Entscheidung getroffen. Die, dass ich diese Kompensation nicht mehr brauche. Ich habe für diesen Weg keine ärztliche Hilfe in Anspruch genommen, aber das ist nur mein Weg. Es gibt mit Sicherheit, für jeden der in dieser Art sein Leben verändern möchte, einen anderen Weg. Manch einer braucht einen Partner, der ihn anleitet, manch einer nicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir jemand sagt was ich und wie ich die Dinge jetzt handhaben soll um das übermäßige Essen sein zu lassen. Und ich wusste, ich kann nur meinen ganz eigenen Plan machen, der aus einem inneren Wunsch und einer inneren Einsicht her entsteht und das hat für mich super funktioniert.

Ich bin wieder bei mir

Und jetzt, genau ein Jahr später bin ich bereit, diese Gedanken hier zu veröffentlichen. Weil ich sicher geworden bin und es mich jetzt nicht mehr verletzt, wenn jemand diesen „Makel“ an mir zum Thema machen würde. Und meine Familie und Freunde haben dazu beigetragen. Sie haben mir gezeigt und mich spüren lassen, das sie mich nicht abwerten oder weniger lieben, nur weil ich eine Essstörung habe oder hatte. Außerdem haben mir viele von ihnen ihre kleinen und großen Macken und Ersatzhandlungen erzählt. Das hat mich einerseits getröstet und sehr berührt und andererseits erschrocken und bewusst gemacht, dass wir alle unsere Päckchen tragen, die uns oft dazu bringen unlogische und selbstschadende Dinge zu tun.

Je länger ich über diesen Zeilen sitze, desto mehr könnte ich wieder eintauchen, weil es ein unendliches Feld von Seelenthemen eröffnet. Und weil ich immer leichter werde mit jedem Wort was ich dazu rauslasse.  Ich nenne es inzwischen auch nicht mehr Essstörung, sondern Kompensationsstrategie und natürlich, wie sollte es anders sein, habe ich auch ein Lied dazu geschrieben. Lach.

Wie vielen geht es wohl wie mir?

Wenn es Euch ähnlich geht oder ging wie mir oder einfach nur etwas wissen wollt über meinen Weg, dann schreibt mich gern an. Ich hab keinen Plan für Euch, ich hab nur ein Ohr und Verständnis und vielleicht den ein oder anderen Impuls, weil ich ja selbst weiß wie es war und wie es ist.

Etwas was ich an dieser ganzen Situation, meinem Weg als positiv bewerte ist, ich bin viel toleranter gegenüber Süchten und Kompensationen anderer Menschen geworden und versuche sie nicht zu bewerten. Außerdem glaube ich, dass es viel mehr Menschen mit Essstörungen gibt, als wir an der Oberfläche wahrnehmen. Welcher Mensch kann von sich sagen, dass er nur so viel isst, bis er wohlig satt ist und ein weiteres Verlangen nach Leckereien hat? Bzw. wer weiß heute was ihn wirklich nährt und hält sich daran ohne das Gefühl zu haben zu verzichten oder nicht kulinarisch befriedigt zu sein? 😉

Begleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungBegleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungBegleitbild Kompensationsstrategie - EssstörungEssen in unserer Gesellschaft

Leider ist Essen und das was wir daraus machen, also das Herstellen von Gaumenfreuden, das Zelebrieren, das Verknüpfen mit Wohlgefühl und mit gesellschaftlichem Zusammenspiel ein ziemlich wichtiger Faktor in unserem Leben in dieser Zeit. Es ist grundsätzlich nicht verwerflich, zu genießen und zu zelebrieren. Aber da ich sehr sensibel geworden bin dafür, werde ich das Gefühl nicht los, dass dieser Genuss sehr oft mit schlechtem Gewissen, Unwohlsein und Unzufriedenheit verbunden ist. Und das ist wirklich schade.

 

So, jetzt Schluss für heute. Ich beende das Kapitel mit einem Lächeln,
weil ich wieder ein Stück Clara geworden bin…